Sabeths Vater / Elisabeth Wallenborn-Honigmann ist die Tochter einer Jüdin und eines Nazis. Der war die ersten 40 Jahre ihres Lebens ein Tabu. Die zweiten 40 Jahre ein Phantom. Jetzt, mit Mitte achtzig, wendet sie ihren Blick: auf sich / Spiegel Online und BR, 2023

 

Noch keine hundert Jahre ist es her, da regierte ein böser Herrscher, der wollte alle Juden töten. Mitten in seinem Reich aber, von Wäldern umwachsen, umringt von einer Mauer, lag in einem Park ein altes Schloss, darin lebten sieben Kinder, die waren Juden. Doch die Knechte des Herrschers wagten nicht, sie zu holen.
Das jüngste Kind, das damals so märchenhaft empfand, hieß Sabeth, und es lebt noch heute. Elisabeth Wallenborn- Honigmann, genannt Sabeth, ist eine Frau von 84 Jahren, nicht rüstig, sondern jung. Jung genug, um sich zurückzufühlen in das Kind, das sie einst war. Da war die satte schlesische Sonne, da war der weite Park, wo sie Räuber und Gendarm spielte mit den Cousins und Cousinen. Da war die Mauer, darin lagen Schutz und Beklemmung. Da war der Löwenzahn, der blühte, als ob nichts wäre. »Mein Traumparadies«, so nennt sie es. Weil es so schön war. Und so unwirklich.

In Wirklichkeit war das alte Schloss die Wohnvilla einer Lungenheilanstalt. Sie gehörte Wallenborn-Honigmanns Großfamilie und liegt am Rande von Görbersdorf, heute Sokołowsko in Polen, rund 90 Kilometer entfernt von Breslau. Sabeth lebte dort, bis sie sechs war, zwischen 1939 und 1944, gemeinsam mit Cousins, Cousinen, Tanten, Oma und ihrer Mutter. Die Männer lebten in Berlin, sie galten als »Volljuden«, die Frauen und Kinder als »jüdische Mischlinge«. Ihr Vater war kein Jude, er lebte aus einem anderen Grund nicht bei der Familie. Weshalb man im Wohnhaus in Görbersdorf den Vater recht sorgfältig beschwieg. Denn der war nach allem, was sie heute weiß, Nationalsozialist: Sein Eintrag in der NSDAP-Mitgliederkartei stammt von September 1930.

Das waren die Fragen, die sie sich jahrzehntelang nicht stellte und die sie heute, mit 84, einholen: Wer war mein Vater? Warum hat er meine Mutter verlassen? Warum haben uns die Nazis nicht abgeholt aus Görbersdorf, nur etwa 260 Kilometer entfernt von Auschwitz? Alle ihre Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen überlebten laut Sabeth die Schoa. Warum, das weiß bis heute niemand.Elisabeth Wallenborn-Honigmann ist die Letzte ihrer Generation. Sie sitzt über den Dächern Münchens in einem hohen Altbau nahe dem Glockenbach am Fenster, durch das die Vormittagssonne scheint, und gießt Schwarztee in zierliches Porzellan. Hier ist sie, nach der Flucht aus Schlesien, nach einer Jugend in Berlin, heimisch geworden.

Mama, wer war mein Vater, lebt er noch, kommt er noch? Sie neigt denKopf zur Seite. »Ich glaube nicht, dass ich als Kind überhaupt auf die Idee gekommen bin, so etwas zu fragen.« Vielleicht nicht einmal im Stillen, jedenfalls erinnert sie nicht einmal einen Fantasiepapa, den sie sich ausgemalt hätte. Der Vater war ein blinder Fleck, so blind, dass das Kind nicht nur nichts vom Vater wusste, sondern auch nichts vom Fleck. Was Sabeth als Kind fühlte: dass sie und ihre Mutter einen schweren Stand hatten. Das Haus Joël, dem sie angehörten, war stramm preußisch. Man ließ nichts auf sich kommen, schon gar keinen Bankert. Alle waren getauft, die jüdischen Wurzeln habe man als Makel empfunden. Den Nazis war das egal, das war klar. Auf Papier mag teilweise zwischen Juden, »Halb- und Vierteljuden« unterschieden worden sein, um ihr Leben fürchten aber, dass mussten sie alle. Es half auch nicht unbedingt, dass Sabeths Großonkel Curt Joël es in der Weimarer Republik zum Reichsminister der Justiz gebracht hatte. Das Nazipack, es sei wahrlich eine Schande für jeden aufrechten Deutschen, so echauffierten die Großen sich manchmal bei Tisch. Und Wallenborn-Honigmanns Großvater Walter Joël schrieb Silvester 1943 in sein Tagebuch: »Unsere Truppen leisten Ungeheures. Ganz Deutschland ist ein Heerlager zur Abwehr der Feinde von Ost und West.«

Sie steht auf, geht übers Parkett, vorbei am Flügel, hinüber zum Regal, holt einen Ordner heraus, schlägt ihn auf, blättert Klarsichtfolien hin und her, bis sie ein Foto findet. Ein Mann steht lässig im Schnee, in feinen Lederschuhen und einem groben Wollmantel mit breitem Revers. Ein Arm fehlt. Konzentriert, aber lässig schaut er auf die Zigarette, die er gerade anzündet. Das vorgeschobene Kinn, der kompakte Körper, die weit geschnittene Hose mit den Bundfalten und dem breiten Saum geben ihm die Aura eines vierschrötigen Mannsbildes aus gutem Hause. 1948, mit zehn, hat sie das Foto zum ersten Mal gesehen, an einem müßigen Nachmittag in Berlin, beim Stöbern im alten Sekretär, während die Mutter noch in der Arbeit war.

Sabeth fragte damals nicht: Wer ist der Mann? Denn Sabeth war ein Kind, das ihrer Mutter keinen Kummer machte. Stattdessen nahm sie das Bild still an sich. Und beschloss: Der hier, der ist mein Vater. »Das genügte mir.« Sie hat so eine Art, große Dinge in kleine Sätze zu packen. Vier Jahrzehnte lang genügte ihr als Antwort auf die Frage, wer ihr Vater sei, das Foto eines Mannes, von dem sie nichts wusste, noch nicht mal seinen Namen. 40 Jahre, in denen sie eine Buchhändlerlehre am Kurfürstendamm absolvierte, nach München zog, zweimal heiratete, zwei Kinder bekam und Theaterfestivals organisierte. Ein Leben als Tochter, Theatergängerin, Ehefrau, Managerin, Mutter, Freundin, Leserin. Sie sitzt wieder am Fenster, als ihr Mann Hannes aus einem hinteren Zimmer auftaucht, sich dazusetzt und erst einmal zuhört. Seinfeinkantiges Gesicht hat er ihr halb zugewandt, seine Augen ruhen auf ihr. Seit 1969 sind sie zusammen. »Ich habe mich insgesamt nie besonders für mich interessiert«, sagt Sabeth Wallenborn-Honigmann irgendwann. Noch so ein kleiner Satz.

Den illustriert Hannes nun: In den Siebzigerjahren habe er sie ermutigt – »schon eher bedrängt«, unterbricht sie ihn –, eine Psychotherapieauszuprobieren. Er stammt aus einer ildungsbürgerlichen Familie, in der eine solche quasi zum guten Ton gehört habe; schon sein Vater habe in den Zwanzigerjahren bei Alfred Adler auf der Couch gelegen. »Ja, du mit deiner glücklichen Familie konntest dir das leisten«, erwidert Sabeth und erzählt: »Zehn Monate lang saß ich wegen dir jeden Montag dem Therapeuten gegenüber. Eine Stunde lang haben wir kein einziges Wort gesagt.« – »Da hast du zu mir gesagt...« – »...ich habe meine Vergangenheit in eine Kiste gepackt und darauf bleib ich schön sitzen.« Aber in der Kiste raschelte es. Dann, 1991, starb die Mutter. Die beiden hatten kein Sterbenswort miteinander über den Vater gewechselt. Jetzt, wo es zu spät war, drang ihr das schmerzhaft ins Bewusstsein. Noch im selben Jahr fuhr sie mit Hannes im Auto nach Sokołowsko. Ihr war, als sei sie noch nie dort gewesen. Sie stieg aus, lief ein Stück durch die Allee, ging vorbei an ihrer alten Schule und dem Kindergarten. »Ich habe im ganzen Ort nichts erkannt. Dabei war ich sechs, als wir 1944 vor der Roten Armee nach Berlin geflüchtet sind.«

Erst als sie durch das alte Tor in der Mauer ging, kamen Erinnerungen, an die Bäume, die ihr Urgroßvater pflanzen ließ, und die alte Villa. Drinnen das Treppenhaus, großer Gang in der Mitte, die vielen Zimmer, alles sehr vertraut. Außerhalb der Mauer: totale Verdrängung, innerhalb: nostalgische Erinnerung. »Für die Menschen im Dorf waren wir reiche Juden, und das wussten die Erwachsenen. Sie behielten uns Kinder damals möglichst hinter den Mauern«, so erklärt sie sich das. Warum sie nicht deportiert wurden, blieb rätselhaft. In der Dorfchronik fand sie einen Satz, der traf sie wie ein Schlag: »Unser erster Nazi-Bürgermeister fuhr einarmig in seinem offenen Horch durch unseren Ort.« Einarmig, wie der Mann auf dem Foto, das sie gefunden hatte. Johannes Rüdiger hieß der Mann. Ihr Vater, ein Nazi? In der Kiste rumorte es. Vielleicht, so schoss ihr damals ein, hatte jemand die Hand über sie gehalten. Vielleicht Onkel Curt, der ehemalige Justizminister mit besten Kontakten aus der Weimarer Zeit? Oder der Vater mit seinen Beziehungen in der Partei und als Bürgermeister? Sie fuhr Archive ab, wurde vorstellig, ersuchte um Auskunft, sah ein, stöberte auf, jahrelang. Sie entdeckte das Tagebuch ihres Großvaters,geschrieben in Sütterlin: »Sylvester 1938. Ein Jahr ist vergangen! In der Familie hat sich manches verändert! Eine Enkelin ist geboren: Edith hat am 5. Oktober ’38 ein kleines Mädchen bekommen! Edith ist unverheiratet! Wer hätte das jemals für möglich gehalten!«

Der Vater, steht darin, sei Reichsgeschäftsführer des Reichsverbandes privater Krankenkassen. »Hoffnungen, Versprechungen, wie auch dergute Wille, scheiterten daran, dass Rüdiger ein alter Kämpfer und Nationalsozialist ist. … Im Gegensatz zu den wiederholten Äußerungen, dass er bestimmt hoffe, die Genehmigung zu erhalten, Edith zu heiraten, wurde ihm die Genehmigung verweigert. Ohne Genehmigung kann er nach den Nürnberger Gesetzen nicht heiraten.« In Wallenborn-Honigmanns Geburtsurkunde, ausgestellt 1938, ist kein Vater vermerkt. Er hat sich wahrscheinlich von der Mutter getrennt, um seine Karriere nicht zu gefährden, und deshalb auch die Eintragung in die Geburtsurkunde vermieden. Hat ihre Mutter darauf verzichtet, ihn anzugeben, um ihm keine Scherereien zu machen? Der Vater, steht darin, sei Reichsgeschäftsführer des Reichsverbandes privater Krankenkassen. »Hoffnungen, Versprechungen, wie auch dergute Wille, scheiterten daran, dass Rüdiger ein alter Kämpfer und Nationalsozialist ist. … Im Gegensatz zu den wiederholten Äußerungen, dass er bestimmt hoffe, die Genehmigung zu erhalten, Edith zu heiraten, wurde ihm die Genehmigung verweigert. Ohne Genehmigung kann er nach den Nürnberger Gesetzen nicht heiraten.« In Wallenborn-Honigmanns Geburtsurkunde, ausgestellt 1938, ist kein Vater vermerkt. Er hat sich wahrscheinlich von der Mutter getrennt, um seine Karriere nicht zu gefährden, und deshalb auch die Eintragung in die Geburtsurkunde vermieden. Hat ihre Mutter darauf verzichtet, ihn anzugeben, um ihm keine Scherereien zu machen? 82 Jahre ist sie alt, als die Kiste explodiert, 2020. Fragen schießen heraus: Was hat die Angst mit ihr gemacht, die sie damals, in Schlesien, nicht fühlte, aber hatte? Die falsche Idylle? Was hat die brüchige Geborgenheit mit ihr gemacht, ihr fragiler Status ohne Vater, ihre schwache Mutter? Was hat das Schweigekartell der Verwandten angerichtet? Genau hier sitzt Wallenborn-Honigmanns Schmerz, bis heute: nicht, dass sie ihren Vater nie gesehen hat. Nicht, dass er Nazi war. Sondern dass er, die Mutter und wahrscheinlich alle Verwandten um sie herum all die Jahre Bescheid wussten. Und dass jede und jeder von ihnen das Geheimnis mit ins Grab genommen hat. »Ich wurde jahrelang für dumm verkauft. Einfach so.«

Das Staunen fuhr in sie. Wütend war sie, müde, schlaflos, verschwitzt, panisch. Sie begab sich an den Rand der Alpen, in eine psychiatrische Klinik. Fühlte sich lebendig wie ein Kind. »Sie ist seitdem viel weicher geworden, sich selbst, aber auch mir gegenüber«, sagt Hannes, ihr Mann. »Nähe entsteht jetzt viel mehr als früher. Gott sei Dank, zum Schluss.«Die Fragen enden nicht. Warum nur fasst sie so schwer Vertrauen? Warum muss sie immer durch Leistung überzeugen? Warum sucht sie überall den Haken? Woher kommt das Gefühl, immer auf sich allein gestellt zu sein? Urvertrauen, was soll das sein? Warum loben alle, wie gut sie zuhört, und warum fällt keinem auf, dass sie nie von sich erzählt?

Jetzt aber, hat sie beschlossen, jetzt erzählt sie mal von sich.

 

Im TV:

https://www.ardmediathek.de/video/stationen/ich-bin-tochter-einer-juedin-und-eines-nazis/br-fernsehen/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzhjNzVmMGI4LWJlMzYtNGI1Zi04NjQyLTQ4ZjgwMWU0ZGU4Mg

 

Im Spiegel:

https://www.spiegel.de/geschichte/belastende-familiengeschichte-aus-der-ns-zeit-sabeths-vater-a-8c64b527-3ac8-4067-a362-593b10135858

 

Foto: Andreas Unger